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weekly#71 Seelenverwandter auf SlowTravelTour - Magische Momente der Daumenkinographie

"Steckt im Daumenkino die Sehnsucht, bewegte Momente festzuhalten und sie an jedem Ort, an dem ich mich befinde, wieder entstehen lassen zu können? Steckt dahinter der tieferliegende Wunsch, die Zeit nicht nur anzuhalten, sondern sich frei in ihr bewegen zu können, indem man im Daumenkino als Schöpfer des Geschehens für Sekunden aus dem Zeitfluss heraustritt, der gewöhnlich alles mit sich fort reißt?"

Volker Gerling: „Der Mantel der Eigenzeit - Gedanken zum fotografischen Daumenkino“ im Selbstverlag für 15 Euro.

 


In der Summerhall beim Edinburgh Festival Fringe traf ich durch Zufall den Berliner Daumenkinographen Volker Gerling. Ich hatte zuvor noch nie etwas davon gehört und blieb interessiert an seinem "Bauchladen" hängen. Er erzählt mir von seinen Wanderungen. Er zieht zu Fuß und ohne Geld los und lebt nur davon, dass sich die Menschen die Daumenkinoausstellung ansehen, die er auf einem Bauchladen vor sich herträgt. Zu sehen sind Portraits von Menschen, denen er auf vorherigen Wanderschaften begegnet ist. So entsteht immer Neues aus Altem. Sein Interesse gilt Menschen und dem Leben. Wenn man wochenlang zu Fuß unterwegs ist, kommt man sich selbst sehr nah. Er ist glücklich, wenn sich Unbekannte ihm gegenüber öffnen; vielleicht, weil sie wissen, dass sie ihn (vielleicht) nie wieder sehen werden. 

Die 36 Bilder, aus denen seine Daumenkinos bestehen, entfalten durch ihre Wiederholbarkeit und den Umstand, dass die Leerstellen zwischen den Bildern spür- und hörbar sind und (unbewusst) ergänzt werden müssen, eine ungeahnte Kraft und Poesie. 

Während des Studiums an der Filmhochschule hatte er die Idee, seine motorisierte Spiegelreflexkamera (Nikon F3) als Filmkamera zu nutzen. Er hat gemerkt, dass es sehr spannend wird, wenn er die Menschen damit überrascht, dass er sie für ein Daumenkino 36 Mal hintereinander fotografiere. So rüttelt er seine Protagonisten aus ihren Posen heraus und es entstehen sehr authentische, wahrhaftige Momente. Irgendwann hat er festgestellt, dass es wichtig ist, auch die Geschichten der Menschen, die er fotografiert, zu erzählen.

 

Die Faszination daher rührt, dass die Zeit im Daumenkino nichts Starres ist, sondern flexibel wird. Und da kommt die Physik ins Spiel. Denn Zeit ist keine Konstante, sondern wird mit dem Raum zur Raumzeit und ist dehn- und stauchbar, fast wie wir es im Daumenkino erleben. So kam er auf den Begriff der Eigenzeit. Das Buch “Der Mantel der Eigenzeit” von ihm muss ich mir noch besorgen.

Wer die Möglichkeit hat, nach seiner eigenen Zeit zu leben, nach seinem eigenen Rhythmus oder dem der Natur, der lebt gesünder und glücklicher als der, dessen Lebenszeit und Lebensrhythmus ausschließlich von Uhren bestimmt wird. Womit sich der Kreis zur Wanderschaft wieder schließt.

 

Bei seinem Auftritt in dem kleinen Saal stand er seitlich vor einer Leinwand. Vor ihm aufgebaut war ein Tisch mit einer Kamera und einer Lampe, unter denen er seine Daumenkinos durchblätterte, während er die Geschichten zu den Daumenkinos erzählte. Wie er die Menschen, die er da festgehalten hatte, getroffen und fotografiert hatte. Besonders hängen geblieben ist mir das Daumenkino mit dem Mädchen, das man im Spiegel sieht. Sie schließt die Augen, lässt sich ihre langen Haare abrasieren und als sie die Augen wieder öffnet, beginnt die Aufzeichnung des Daumenkinos und hält auf 36 Bildern ihre Reaktion fest, als sie sich das erste Mal kahlgeschoren im Spiegel sieht.

Ich habe es bei seinem Vortrag in der Summerhall beim Edinburgh Festival Fringe erlebt, wie es sich anfühlt und anhört, wenn die Kamera richtig laut losrattert und gefühlt nicht mehr aufhört.

Diese Reisebeschreibungen sind ein lebendiges, berührendes und sehnsuchtsvolles Stück Literatur. Eine Sehnsucht nicht nach weiten Reisen, sondern nach einem Sinn im Leben. Das Buch ist auch kein angeberischer Fußmarsch-Selbstversuch. Seine erste und größte Reise führt ihn zu Fuß und ohne Geld von Berlin bis Basel. Das Buch basiert auf seinem Tagebuch aus dieser Zeit. Wie sagt man so schön: die Magie des Augenblicks, hier wiederholt dargeboten in einer langsamen, meditativen Kette von Begegnungen mit Menschen aus vielen Regionen Deutschlands. Alles sehr menschlich, fast poetisch, dabei auch sehr lebensnah, bereit zu Nachdenklichkeit und Gefühl, angefüllt mit Lebendigkeit und einer jeder Sentimentalität fernen Melancholie - oder eben: voll Sehnsucht! Eine Reise außerhalb der Zeit und gewissermaßen außerhalb der modernen Gesellschaft. Neben den Wanderbeschreibungen und den oftmals überraschenden Begegnungen geht es über über die Langsamkeit, das andere Zeitgefühl einer Reise zu Fuß, über Momentaufnahmen und die Lücken zwischen den Bildern und der Wirklichkeit, die ganz wunderbar zum Fußmarsch-Rhythmus der Reise passen. Quelle: Amazon Rezensent Lord Jickledy


Wir waren verblüfft, dass wir uns beide auf einer SlowTravelTour befinden ;-)


Letzter weekly ...

weekly#70 Wie spricht man Edinburgh eigentlich richtig aus?

 

Auf keinen Fall darfst du etwas wie: Edinboroh, Edinborou,

Edinborah, Edinbörg ... sagen.

 

Es ist ganz einfach "Edin-brah" wie Edin und Bra. 

Mehr im weekly#70


EYE-PHOTO MAGAZINE August 2018

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  • Column by Thomas Füngerlings
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